trailer: Herr Trittin, man flüstert, dass manche Grünen mit Ihrem Atomausstieg hadern. Haben Sie davon gehört?
Jürgen Trittin: Es gab bei den Grünen schon immer Stimmen, die den Kompromiss zum Atomausstieg für zu weich hielten und die gerne schneller aussteigen würden. Angesichts des Wortbruchs der Energiekonzerne und ihrer derzeitigen Kampagne gegen den selbst ausgehandelten und unterschriebenen Kompromiss werden diese Stimmen bei den Grünen wieder lauter.
Nach Wirtschaftsminister Glos rettet uns die Kernenergie vor der Klimakatastrophe. Die Grünen dürfen in diese Richtung nicht denken?
Grüne denken erst und urteilen dann. Bei Herrn Glos ist die Reihenfolge gelegentlich umgekehrt. Atomkraft macht weltweit nur 2,5% der genutzten Energie aus. Wollte man nennenswerte CO2-Einsparungen erzielen, müssten weltweit über 1.000 neue Atomkraftwerke gebaut werden. Das wäre irrsinnig teuer, würde die Gefahren der Weiterverbreitung von waffenfähigem Material dramatisch erhöhen und zur Produktion von Hunderttausenden Tonnen Atommüll führen, deren Endlagerung vollkommen ungelöst ist. Atomkraft ist außerdem nicht CO2-frei, im Vergleich mit Erneuerbaren Energien oder mit Kraft-Wärme-gekoppelten Gaskraftwerken schneidet sie in der CO2-Gesamtbilanz deutlich schlechter ab
Ihre Ex-Ministerkollegin aus NRW Bärbel Höhn fuhr im letzten Wahlkampf noch mit Salatöl im Tank durchs Land. Das würde sie wahrscheinlich jetzt nicht mehr machen?
Das würde sie immer noch tun, vorausgesetzt, der benutzte Biosprit wäre nach ökologisch und sozial verantwortbaren Kriterien angebaut worden. Zertifizierungsverfahren für nachhaltigen Anbau müssen international entwickelt werden, um zu verhindern, dass der Anbau von Biomasse für Treibstoffe zu Nahrungsmittelkrisen oder zur Regenwaldrodung führt. Das findet faktisch aber auch nur selten statt, entgegen der jüngsten Anklagen gegen Biosprit als Sündenbock für den Hunger der Welt. Nur 3% der weltweiten Anbauflächen werden für Biotreibstoffe genutzt. Wesentlich größere Flächen gehen für den Anbau von Soja drauf, der in Fleischproduktion und Konsum in den Industrie- und Schwellenländern fließt. Hier gibt es einen realen und direkten Zusammenhang mit Nahrungsmittelpreisen und Hunger. Für ein Kilo konventionelles Rindfleisch müssen Sie 7 Kilo Soja produzieren. Das trifft den brasilianischen Regenwald.
Nachwachsende Rohstoffe klingt gut. Zynisch könnte man formulieren: Lieber hungern lassen als selbst radioaktiv strahlen?
Diese Formulierung wäre nicht zynisch, sondern sinnfrei. Kein Auto fährt mit Uranbrennstäben.
Hat die alte Ökobewegung mit ihrer Verzichtsideologie versagt?
Die bestimmt schon lange nicht mehr die grüne Agenda. Im Vordergrund steht bei uns schon seit zwei Jahrzehnten der Gedanke der ökologischen Modernisierung, eines Umbaus unserer Lebens-, Produktions- und Wirtschaftsweise auf nachhaltige Methoden. Dazu ist nicht Verzicht, sondern eine Umstellung von Lebens- und Konsumgewohnheiten notwendig und eine ökologische Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Angesichts der steigenden globalen Nachfrage nach Energie, Mobilität, Nahrungsmitteln und Konsumartikeln durch erfreulicherweise steigenden Lebensstandard in vielen Ländern müssen allerdings Aspekte der Effizienz und der Einsparung von Ressourcenverbrauch global viel stärker in den Vordergrund rücken. Verzicht also auf Verschwendung. Diesen Verzicht müssen wir uns in der Tat abverlangen. In der Gestalt von Effizienz und Einsparung steht uns also eher eine globale Renaissance des Verzichtsgedankens bevor.
Bei einem Spritpreis von demnächst drei Euro wird der ADAC die alte grüne Forderung nach fünf Mark für einen Liter Benzin übernehmen. Empfinden Sie Schadenfreude, wenn Sie die Preistafeln an den Tankstellen sehen?
Natürlich nicht, das trifft ja nur die falschen, die sozial Schwachen, mit voller Wucht, während für Automobilindustrie und SUV-Käufer die Ölpreise noch nicht hoch genug sind, um ein Umsteuern wirklich zu befördern. Der Ölpreis wird weiter steigen, da es eine weltweit wachsende Nachfrage bei einem mittelfristig stagnierenden und langfristig sinkenden Angebot gibt. Das ist kein Grund zur Freude, sondern zur kühlen, langfristigen ökonomischen Kalkulation, die sich wie immer mit der ökologischen Vernunft trifft. Konzepte nachhaltiger Mobilität müssen politisch viel stärker gefördert werden. Niedrig verbrauchende Autos, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel, eine Bahn für den Bürger …
Stichwort LOHAS, ist ein erdgasbetriebener Porsche ökologisch?
Erdgasfahrzeuge sind für eine Übergangszeit der technologischen Entwicklung hin zum Nullemissionsauto sinnvoll. Auch wenn Porsche sie baut. Mittelfristig kann man sie mit Biogas betreiben.
NRW gilt nicht als grünes Musterländle. Sehen Sie Chancen, die bankrotte Industrieregion ökologisch umzubauen? Hand aufs Herz, das bisschen Öko kann doch all die vernichteten Arbeitsplätze in der Montanindustrie nicht ersetzen?
Umweltschutz sichert heute weit über eine Million Arbeitsplätze – allein die Erneuerbaren Energien beschäftigen 250.000 Menschen. Davon könnten auch in NRW noch viele mehr entstehen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen würden – und man nicht aus ideologischen Gründen den Ausbau der Windenergie bürokratisch totschikaniert. In der Umweltwirtschaft und in haushaltsnahen Dienstleistungen liegen große Chancen für eine ökologische Weiterführung des Strukturwandels in NRW. NRW müsste das Ziel haben, auf den weltweit wachsenden Märkten für energieeffiziente Technologien und Erneuerbare Energien ein weltweit führender Anbieter zu sein. Wegen der Passivität der Regierung fällt NRW im bundesweiten Wettbewerb um diese neuen Technologiemärkte aber zurück und verpasst damit auch die Chancen bei Arbeitsplätzen und Exportanteilen. Beispiel Erneuerbare: Die ideologisch motivierte Anti-Windkraftpolitik der Landesregierung hat dafür gesorgt, dass NRW bei der neu installierten Leistung weit hinter Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein zurückgefallen ist. Moderne Anlagen der fünf- oder sechs-Megawatt-Klasse werden ausschließlich in anderen Bundesländern oder im Ausland gebaut.
Was kann NRW, was kann das Ruhrgebiet zur Klimarettung beitragen?
NRW produziert pro Person 16 Tonnen CO2 pro Jahr, annähernd so viel wie in den USA (20 Tonnen). Zum Vergleich: In Indien liegt der Wert heute bei nur einer Tonne CO2. In NRW bleibt also eine Menge zu tun. Ein erster kleiner Schritt wäre etwa eine Umweltzone Ruhrgebiet, das wird bisher von der FDP blockiert. Eine große, einheitliche Umweltzone Ruhrgebiet würde den dort lebenden Menschen endlich eine deutlich bessere und gesündere Luft bringen.
Merkel wirkt in den Medien grüner als Schröder. Ich erwarte Ihren Protest.
Die Medien sind Merkels Inszenierung lange auf dem Leim gegangen. Doch mittlerweile ist die Ökoglasur im Image von Frau Merkel wie das Eis im Polarmeer geschmolzen. Das groß beworbene Klima- und Energiepaket der Bundesregierung war schon in Meseberg 2007 unzureichend. Statt der versprochenen 40% wären nur 33% Reduktion von Treibhausgasen heraus gekommen. Doch selbst diesem Paket ging es wie einem Gletscher im Klimawandel: Jedes Mal wenn man hinschaut, ist es schon wieder geschrumpft. Erneuerbare Wärme in Altbauten oder das Mieterrecht auf eine besser isolierte Wohnung sind schon lange verschwunden. Als wir das letzte Mal nachrechnen ließen – durch das Energieberatungsunternehmen Ecofys – hätte das Paket statt der angestrebten 270 Millionen Tonnen CO2 nur maximal 140 Millionen Tonnen eingespart. Danach wurden abermals Maßnahmen verschoben, so die Umstellung der KfZ-Steuer auf den CO2-Ausstoß, eine strenge Energieeinsparverordnung sowie eine verbesserte Lastwagenmaut. Oder die Energieeinsparung im Gebäudebestand: Hier wurde der Einstieg mit dem KfW Gebäudesanierungsprogramm unter Rot-Grün geschafft, doch die Weiterentwicklung bleibt aus. Ein Drittel der CO2-Emissionen werden durch den Wärmeverbrauch in Gebäuden verursacht, nur 0,7% der Gebäude werden pro Jahr energetisch saniert. Wir brauchen endlich ein Wärmegesetz auch für den Gebäudebestand. Auch der Strombedarf wird von 2006 bis 2020 statt um die angestrebten 11% nur um 4 bis 6% gesenkt. Die Klimakanzlerin existiert also auf der Ebene der Realpolitik leider nicht.
Wünschen sie sich manchmal Ebermann, Trampert und Ditfurth zurück?
Nee, wieso?
Nun die wirklich nervigste Frage des Interviews. Wenn die große Koalition 2009 nicht fortgeführt werden soll, werden die GRÜNEN wieder regieren. Aber wie? Als Ampelfarbe, in einer Jamaika-Reggaerung oder als Teil der Volksfront?
Bei Jamaika können die Grünen ihre Inhalte in einem großen Joint rauchen. Rot-Rot im Bund ist mit Lafontaine und der außenpolitischen Linie der Linkspartei nicht vorstellbar und von ihr nicht gewollt. Bleibt die problematische Ampel.
Und welche Wünsche haben Sie bezüglich einer NRW-Regierung in 2010?
Grüne an der Macht.
Jürgen Trittin (54) ist seit 1980 Mitglied bei den GRÜNEN. 1982 zog er in den Landtag von Niedersachsen ein. 1990 wurde er unter Ministerpräsident Gerhard Schröder Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten.
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