Der ehemalige Kohlenpott soll im Jahr 2020 eine Weltausstellung zum Thema Klimaschutz ausrichten? Die Idee, die Medienberichten zufolge vom Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Bara- nowski stammt und inzwischen sowohl von den RUHR.2010-Geschäftsführern Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt wie auch der Ministerpräsidentin Hannelore Kraft befür- wortet wird, scheint auf den ersten Blick wie ein schlechter Scherz. Über hundert Jahre stand die Region für Staub, Qualm und Gestank. Noch heute ist das Ruhrgebiet mit seinen Kraftwerken, Industrieanlagen, seinem star- ken Autoverkehr und der dichten Besiedelung mit zumeist schlecht gedämmten Häusern der größte Kohlendioxid-Emittent der Republik. Eine Öko-Expo zum jetzigen Zeitpunkt hieße, den Bock zum Zier- gärtner zu machen. Andererseits, wahrscheinlich liegt gerade darin der Charme der Idee. Änderungs- potentiale zum Besseren sind gerade dort gut zu finden, wo die Situation besonders dramatisch ist.
Die flächendeckende Umrüstung der Wohnbebauung ist eine Mammut- aufgabe, die Vollbeschäftigung und Umweltschutz garantiert
Was aber könnte das Ruhrgebiet in zehn Jahren bieten? Immer wurden bei Weltausstellungen technische Neuheiten der staunenden Öffentlich- keit gezeigt. Während im Jahr 1889 in Paris der Eiffelturm eingeweiht wurde, präsentierten Ingeni- eure in der Weltausstellung von Chicago vier Jahre später den Elektrischen Stuhl als menschenfreund- lichere Entleibungsmethode, die den bis dahin ver- wendeten Galgen ablösen sollte. Jede Epoche hatte bislang also ihre Attraktion vorzuweisen. Im Post- karbonzeitalter könnte das Ruhrgebiet zeigen, wie unser Leben in einigen Dekaden aussehen könnte, und – nimmt man die wissenschaftlichen Progno- sen zum Klimawandel ernst – auch muss. Sowohl in den Bereichen Wohnen, Infrastruktur wie auch Energiegewinnung bieten sich viele Möglichkeiten. Technisch ist das Null-Energie-Haus, also das Ge- bäude, das ohne fossile Energieträger auskommt, schon heute massenweise umsetzbar. Eigenheime,die sogar unterm StrichEnergie einspeisen kön- nen, sind inzwischen ebenfalls möglich. Eine flächendeckende Um- rüstung der Wohnbe- bauung, die zu einem großen Teil aus den Bausünden des letzten Jahrhunderts besteht, wäre eine Mammutaufgabe, die Vollbeschäftigung und Umweltschutz garantieren würde. Ökologische Verkehrssysteme könnten besonders in Ballungs- zentren effektiv eingesetzt werden. Der Öffentliche Nahverkehr wäre durch intelligente Verzahnung und dichtere Taktung attraktiver auch für bisherige Autofahrer. Wer unbedingt weiter das Automobil nutzen möchte, könnte auf Modelle mit alterna- tiven Antriebsarten umsteigen. Aber auch neue Energiequellen könnten nach dem Ende des Stein- kohlebergbaus genutzt werden. Durch seine Ver- gangenheit ist das Ruhrgebiet das wohl geologisch am intensivsten erforschte Gebiet in der Republik. Diesen Umstand machen sich jetzt schon Erdwär- me-Projekte zu nutzen. In Bochum residiert das Internationale Geothermie-Zentrum. Heißes Gru- benwasser ist also das Grubengold von morgen.
Nirgendwo sonst ist die Landschaft so sehr „bedacht“
Aber nicht nur aus der Erde, sondern auch vom Him- mel kommt Energie. Gelsenkirchen nennt sich schon seit Jahren Solarstadt. Das Knowhow, das durch In- dustriebetriebe und Hochschulen hier konzentriert ist, gibt es in dieser Dichte nirgends sonst im Land. Und ebenso nirgendwo sonst ist die Landschaft so sehr „bedacht“. Selbst die Windkraft, eher in Küstennähe, auf dem offenen Meer und auf dem Land beheimatet, findet im Revier auf den Bergehalden attraktive Standorte. Im vergangenen November schlossen der Energiekonzern RWE und der Berg- baukonzern RAG ein Kooperationsabkommen. Auf den bis zu 200 Meter hohen Erhebungen sollen sich nicht nur Rotoren drehen. Als Energiespeicher wird in Zeiten von viel Wind und wenig Verbrauch Wasser in Bassins gepumpt, das bei Flaute für Spannung im Netz sorgt, indem es Turbinen antreibt. Eine Pilotan- lage ist auf der Halde Sundern in Hamm geplant.
Nach dem im Großen und Ganzen erfolgreichen Kulturhauptstadtjahr blüht dem Ruhrgebiet also vielleicht bald ein neues Highlight. Die Klima- Expo könnte Entwicklungen, die bei der Internati- onalen Bauausstellung Emscher Park von 1989 bis 1999 angestoßen und während der RUHR.2010 fortgeführt worden sind, vollenden. Auch wenn mancher Bewohner nach Hauptstadtjahr und den familiären Festtagen ein wenig feiermüde sein mag, die Chance, nicht nur als Kulturmetropole, sondern auch als ökologische Modellwelt wahr- genommen zu werden, sollte nicht vertan werden. Natürlich ist noch völlig unklar, ob sich das Ruhr- gebiet gegen andere Bewerber aus den USA, Thai- land, der Türkei und anderen Ländern durchsetzen kann. Essen ist nach wie vor nicht New York. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Im Falle einer positiven Antwort vom Bureau International des Expositions in Paris wäre viel zu tun. Und natür- lich stellt sich dann spätestens die Frage nach der Finanzierbarkeit des Projektes. Mehr noch als bei der RUHR.2010 entstehen allerdings durch Inves- titionen in Ökologie dingliche Werte. Wer ein Solardach besitzt, hat seine Stromrechnung für die nächsten 30 Jahre bezahlt.
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