Autobiografische Stoffe waren in den letzten Jahren ein großes Thema. Und zwar nicht unbedingt bei den Altmeistern, die am Ende ihrer Reise auf ein langes, ereignisreiches Leben zurückblicken. Zwischenzeitlich schien es so, als würde jeder Comiczeichner für sein Debüt erst mal seine Biografie auf halbwegs Erzählbares abklopfen. Bevor damit nun ein ganzes Genre diskreditiert wird: Einige der großartigsten Graphic Novels der letzten Jahre waren Autobiografien oder autobiografisch gefärbt. Und wenn man genau ist, dann ist ja auch das spannende Genre der Reportagecomics meist aus autobiografischen Erlebnissen gespeist. Ein weiterer Grund, den Blick von autobiografischen Comics nicht abzuwenden erschien dieser Tage beim Berliner Verlag Reprodukt. „MSGL – Mein schlecht gezeichnetes Leben“ tanzt bereits mit dem Titel auf der Metaebene und spielt auch auf den 140 Seiten voller Jugenderinnerungen nicht nur mit der Zeitachse, sondern auch mit den verschiedenen Wahrnehmungsebenen des nicht selten berauschten, oft depressiven und mitunter psychotischen Autors Gipi. Und trotzdem erzählt Gipi mit humorvollem Ton. Kunststück, wenn man am Ende doch noch ein gefeierter Comiczeichner geworden ist. Ebenfalls autobiografisch ist „Der Araber der morgen“ von Riad Sattouf. Der Franzose, der zehn Jahre lang für Charlie Hebdo arbeitete und gerade seinen zweiten Spielfilm „Jacky im Reich der Frauen“ mit Charlotte Gainsbourg in den deutschen Kinos zeigt, lebte als Kind einer Bretonin und eines Syrers viele Jahre in arabischen Ländern. Über die teils verstörenden Alltagserlebnisse berichtet er mit dem naiven Blick eines Kindes und lässt die Ereignisse umso fragwürdiger erscheinen, ohne westlich-rationalistische Kritik auffahren zu müssen (Knaus).
Mit Autobiografie hat Étienne Davodeaus „Der schielende Hund“ nichts zu tun. Davodeau fantasiert über die Regeln der Kunstwelt. Der Museumswärter Fabien will der Familie seiner neuen Freundin einen Gefallen tun und versucht, ein Bild eines Ahnen im Louvre unterzukriegen. Dabei gerät er an den merkwürdigen Geheimzirkel „Republik Louvre“. Dort ist man sehr an Fabiens Idee, eine Art umgekehrter Kunstraub, interessiert. Davodeau umspielt mit seiner leichten Geschichte die Frage „Was ist Kunst?“
(Egmont).
Noch fantastischer: Isabel Greenbergs „Die Enzyklopädie der Frühen Erde“ ist eine archaische, von allen möglichen Mythologien durchzogene Geschichte, die einen Geschichtenerzähler über die ganze Erde führt: Einst dreigeteilt, damit drei Schwestern, die ihn als Findelkind aufnahmen, jeder einen Teil bekommt, und später wieder zusammengefügt, weil‘s wohl doch keine so gute Idee war, fühlt er sich fortan, als fehle ihm noch ein Stück seiner Seele. Daher reist er um die Welt, landet auf merkwürdigen Inseln voller Gefahren, trifft auf brutale Wikinger, denen er sich als Geschichtenerzähler vorstellt, die ihm wiederum ihre Geschichten erzählen – und so weiter und so fort. Und so reiht sich eine Erzählung an die nächste, noch fantastischere Geschichte. (Suhrkamp). Am fantastischsten: Mit dem Leporello „Ferien im Sumpf“ schließt Marijpol an ihren Comic „Eremit“ an und beobachtet ihre sonderbaren Protagonisten beim Chillen: Die Mutationen aus „Eremit“ finden hier einen Alltag, der auf groteske, aber auch anrührende Art mit ihren körperlichen Deformationen kollidiert. Aber auch die absonderlichsten Fantasiegestalten haben ein Recht auf Normalität (Avant Verlag).
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