trailer: Herr Bos, wie muss sich Schule wandeln, damit sie in Zukunft ihre Aufgabe erfüllt?
Wilfried Bos: Schule musste und muss sich immer wandeln. Den letzten großen Wandlungsprozess haben wir ja mit der Hinwendung zur Kompetenzvermittlung gerade hinter uns. Es geht in der Schule nicht mehr nur um Inhalte. Das soll nicht heißen, dass Kompetenzvermittlung inhaltslos ist. Aber wir haben nun gewisse Freiheiten. Die Analyse von Texten kann ich mit Harry Potter genauso lernen wie mit Werken von Shakespeare.
Es macht ja auch keinen Sinn mehr, alle Hauptstädte Europas auswendig zu lernen. Es gibt ja Wikipedia.
Natürlich muss man sich einigen, welche Informationen SchülerInnen auf ihrer Festplatte im Kopf gespeichert haben müssen und welche sie von Wikipedia oder Brockhaus beziehen können. Wikipedia weist, einer Untersuchungen zufolge, weniger Fehler auf als der Brockhaus. Wichtiger ist aber kritisch zu hinterfragen, welche Lobbygruppen Wikipedia steuern, die systematisch einige Einträge in den Vordergrund setzen. Junge Menschen sollten in der Schule befähigt werden, jeden Text kritisch zu hinterfragen. Welche Hintergedanken hat die OECD, wenn sie die PISA-Studie in Auftrag gibt?
Die PISA-Studie hat etwas mit Herrschaft zu tun?
Ich habe nach 1968 studiert. Vielleicht bin ich dadurch etwas geprägt. Aber ich bin der Überzeugung, dass Wissenschaft immer etwas mit Herrschaft zu tun hat und dass man Informationen bezüglich ihrer Quellen kritisch einordnen muss. Ich las eine Studie, die bewies, dass Rotwein gut gegen Herzinfarkt ist. Später erfuhr ich, dass die Studie vom Bordeaux-Weininstitut war. So habe ich den Konsum von Rotwein dann doch nicht systematisch ausgeweitet, weil ich in der Lage war, jene Studie kritisch zu hinterfragen.
Was hätte die OECD davon zu verbreiten, dass deutsche Kinder dumm sind?
Die OECD als Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist daran interessiert Humankapital noch effizienter zu machen, damit man es noch wirtschaftlicher einsetzen kann. Aber ist das das Ziel von Schule? Brauchen wir nicht noch andere Kompetenzen als die, die PISA misst?
Stimmt es, dass Kinder nicht mehr richtig lesen lernen müssen?
Es stimmt nicht, dass Kinder nicht mehr lesen lernen. Die Lesekompetenz bei den SekundarschülerInnen steigt von 2001 bis 2012 stetig. In der Grundschule waren wir schon immer auf hohem Niveau im internationalen Vergleich und haben dieses hohe Niveau gehalten. Ich habe eine Replik auf eine Veröffentlichung von Ursula Sarrazin geschrieben. Frau Sarrazin behauptet ja, dass unsere Kinder und Jugendlichen immer dümmer werden. Faktisch ist das nicht so. Schon einer der alten Griechen hat gesagt, dass die Studenten immer dümmer werden. Ich habe zwar subjektiv auch dieses Empfinden, kann das aber kontrollieren. Ich unterrichte seit 25 Jahren Statistik. Das Niveau meiner Statistik-Klausuren ist immer das gleiche. Nach den objektiven Fakten sind die Studierenden eher besser geworden. Meine subjektive Einschätzung kommt daher, dass ich fachlich auch immer besser werde. Deshalb wird der Abstand zu den Lernenden immer größer.
Welche zusätzlichen Kompetenzen brauchen die SchülerInnen noch?
Das ist eine Frage, die in demokratisch gewählten Gremien zu klären ist. Ich persönlich finde, dass Fächer wie Kunst, Musik, Religion und Ethik wichtige Bestandteile des Lehrplans sind. Die Ergebnisse von PISA vergleiche ich gern mit den Blutwerten bei einer ärztlichen Untersuchung. Diese zeigen etwas über den Gesundheitszustand, können aber nicht den ganzen Menschen abbilden.
Gehen Kinder und Jugendliche mit mehr Freude in die Schule als früher?
Für die Grundschule können wir feststellen, dass die Freude an der Schule und am Lernen deutlich zugenommen hat.
Was muss die Schule in den nächsten zehn Jahren leisten?
Sie muss weiterhin ihre SchülerInnen zu kritischen und kompetenten Bürgern erziehen. Kompetenz ist natürlich auch wichtig, nur kritisch reicht nicht. 1968 ist ja vorbei.
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