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„Nosferatu lebt!“
Foto:Birgit Hupfeld

Was für ein großartiger Schreck

18. Dezember 2014

Kaum zu glauben: „Nosferatu lebt!“ Jörg Buttgereit inszeniert im Studio Dortmund eine Stummfilm-Hommage an F. W. Murnau – Auftritt 01/15

Ganz intim im Blutsaugerschloss. Ja geht das überhaupt? Kein Problem für den Horrorfilmemacher Jörg Buttgereit, der seit Jahren in Dortmund die Hollywood-Ungeheuer und die aus dem wahren Leben auf die kleine Bühne des Schauspielhauses bannt. Wie durch einen Voodoopriester werden sie temporär zurück ins Leben und ins Bewusstsein der Menschen geholt, nicht dass ihre Geschichten immer vergnüglich sind, wie bei Ed Gein, dem kranken Schlächter von Geinsfield oder der menschenverachtenden Geschichte des „Elefantenmenschen“ John Merrick, nein, Buttgereit hat als Theatermacher ein Händchen für den schmalen Grat zwischen Sensation und Wahrhaftigkeit und eben auch Witz. Jetzt also die literarische Figur des inzwischen fast geadelten Vampirs Dracula, der auch mal Nosferatu heißt und eigentlich noch immer untot ist. Huch.

Klein ist des Untoten Schloss, klein die Kammer vom kleinen Angestellten Hutter (Ekkehard Freye), der dort mit seiner Frau Ellen (Annika Meier) vom großen Glück träumt. Häusermakler Knock (Andreas Beck) schickt ihn nach Transsylvanien um einem gewissen Grafen Orlok (Nosferatu) ein Londoner Domicil zu verkaufen. Schön marode soll es sein und dementsprechend sind die Gewinnaussichten für Hutter. Wie quetscht man also im Theater drei Räume und die Reise auf eine Minibühne? Gar nicht. Buttgereit arbeitet opulent mit Schattenspiel und Scheinwerferschaltern und schafft es dabei noch die authentische Geschichte zwischen Autor Bram Stoker, Filmemacher F. W. Murnau und dem Drehbuchautor Henrik Galeen in die Szenen zu packen. Und natürlich die Analyse über die durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochene, aber dann lieber in den USA weitergeführte deutsche Horrorfilmkultur, ohne die moderne amerikanische Gruselklassiker überhaupt erst möglich wurden – auch ohne Fluxkompensator.

Also erst mal ein Schlückchen alten Wein aus der Flasche mit dem Fledermaus-Etikett und rein ins Murnausche Draculaheim des Grafen Orlok. Den Blutsauger verkörperte 1922 in dessen Film „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ Max Schreck (nochmal Huch), in Dortmund ist es der unvergleichliche Uwe Rohbeck, dem auch diese Rolle auf Körper und Wesen geschmiedet scheint, denn Rohbeck war bei Buttgereit auch schon ein unglaublich intensiver Ed Gein und grandioser John Merrick. Jetzt ist er eigentlich nicht Nosferatu, sondern eher eine Hommage an Max Schreck, in einer stilisierten Inszenierung, die selbst eine Hommage an F. W. Murnau sein will. Duster, lange Einstellungen, keine Farbe und alles gerahmt vom gefrackten Pianisten Kornelius Heidebecht am schwarzen Klavier, der die Szenen wie in den alten Stummfilmklassikern live begleitet und hier und da etwas duster-musicalhaftes einbringt („Bela Lugosi’s Dead“), während Andreas Beck ab und an aus seiner Rolle tritt und Fakten unter das Publikum streut: Murnau musste seinen Vampir umtaufen, weil er die Namensrechte an Bram Stokers Roman „Dracula“ von 1897 nicht besaß. Henrik Galeen hat insofern eine gespiegelte Version geschaffen, die im Laufe der Zeit ein richtiges Eigenleben entwickelte.

Das Original-Drehbuch war für Buttgereit nicht verfügbar, er hat mit der visuellen Vorlage des Films gearbeitet und deshalb viel mit bekannten Bildern gespielt. Ratten kommen nur in essbarer Form vor und sie fallen massenhaft von der Decke aufs Publikum. Das Grauen findet in Dortmund also lieber im Schattenkabinett statt, Max Schreck/Orlok/Nosferatu sorgt für die absolute Präsenz, aber auch Annika Meier als Ellen hat die Stummfilm-Motorik verinnerlicht, köstlich, wenn sie sich träumend auf dem Diwan räkelt, um das Grauen vorherzuahnen oder später dem verliebten Grafen den weißen Hals hinzustrecken. Hier hat Nosferatu bereits seinen Schrecken verloren, der kleine verliebte Untote rennt wie immer in sein Verderben, ausgerechnet die Morgensonne gibt ihm den Rest. „Time Is on My Side“ singt es in Dortmund, wo der längst gesaugte Hutter wohl freiwillig an die Stelle des toten Vampirs tritt. Dann noch etwas aus Paul Celans „Todesfuge“: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Genau. Aber wir liefern heute nur noch die Werkzeuge.

„Nosferatu lebt!“ | R: Jörg Buttgereit | So 25.1. 18.30 Uhr | Theater Dortmund | 0231 502 72 22

PETER ORTMANN

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