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Durand Durand träumt von der Weltherrschaft
Foto: Anna Lenkewitz

So schön, schön war die Zeit

07. Dezember 2013

„Barbarellapark“ begeistert in Mülheim mit pointiertem Witz

Knatschbunte, enge Turnanzüge, glitzernde Haarbänder und breit grinsende Gesichter begrüßen den Zuschauer direkt beim Betreten des Bühnenraumes im Ringlokschuppen in Mülheim. Die ganze Szene erinnert stark an die wohlbekannten Aerobicvideos aus den 1980er Jahren. Und da ist es, das kurze schuldbewusste Gefühl, das sich bei mir einschleicht: Warum, zum Teufel, können die Vier immer noch so lächeln, obwohl die Sit-Ups und Dehnübungen in unglaublichem Tempo durchgeführt werden? „Morgen beginne ich mit Sport, ganz ehrlich“, schießt es mir durch den Kopf, bevor ich dann vollkommen in der Welt von Barbarellapark versinke.

„Für nur 3,99 Euro können Sie mit dem Kulturbeutel Barbarellapark auf Reisen gehen“ – mit einer samtweichen, erotisch klingenden männlichen Stimme, die stark an die in den Neunzigern bekannten Sex-Hotlines a la „Ruf mich an“ erinnern, beginnt das seit zehn Jahren erfolgreiche Musical „Barbarellapark“. Trotz einiger personeller Verluste, aber immer noch in der Originalbesetzung, hinterfragen die vier Dasteller ihr Sein, ihren Werdegang und ihre Zukunftsträume. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht vor allem die Mobilität, die Reise zu immer neuen Orten, vermeintlich besser und schöner, die schon Jane Fonda als sexy Barbarella in dem gleichnamigen Film Ende der 1960er Jahre unternahm.

Mit sexy Aerobicübungen wurden die Zuschauer begrüßt. Foto: Anna Lenkewitz

„Barbarellapark“, dies wird schnell klar, hinterfragt das große Ganze, die Verwirrung einer Generation, die immer im Aufbruch ist, nie stillsteht und auf alle Probleme eine flexible innovative Idee hat oder haben muss. Prädestiniertes Beispiel ist das Leben der vier Darsteller, die tagein tagaus mit dem Tourbus durch die Lande reisen, Requisiten auf- und wieder abbauen, im Tourbus, auf Wiesen oder auf Parkplätzen ihre Auftritte proben. Genial verweben sich die Figuren des ursprünglichen Films mit den Schaustellern des Musicals. Durand Durand, der die Erde erobern und nun die Weltherrschaft an sich reißen will, der Große Tyrann, der zur Abwechslung hier und da als Visual Sensemaker arbeitet, Dildano, der Spaß daran hat, Republiken zu gründen und sie wieder wegzuputschen und Mark Hand, der "Dealer mobiler Architektur". So oszilliert das Musical zwischen intellektuellen Diskussionen über Heimatlosigkeit, Ausbeutung und revolutionären Bewegungen auf der einen und Adaptionen aus dem ursprünglischen Barbarella-Film auf der anderen Seite.

Auch der blinde Engel Pygar ist mit von der Partie. Seine Rede am Ende der Aufführung lädt zum Nachdenken ein, denn im Grunde, so formuliert er, geht es doch nur um eins: Erfolg zu haben und immer weiter zu kommen. Dafür nimmt man einen Job in Kauf, den man nicht mag, man kauft sich eine große Wohnung, die man selten nutzt, sich aber leisten kann, nur um in 20 Jahren vielleicht das Golfspielen für sich zu entdecken und im Rückblick auf sein Leben festzustellen, dass man etwas erreicht hat. Freddi Quinns Lied „So schön, schön war die Zeit“ am Ende des Musicals bringt es vielleicht am besten auf den Punkt: „Dort wo die Blumen blüh‘n, dort wo die Täler grün‘,dort war ich einmal zuhause....“ – Sehnsucht und der Wunsch nach Heimat stehen in starkem Kontrast zur gegenwärtig geforderten Mobilität in allen Lebenslagen, sei sie gewollt oder ungewollt.

„Barbarellapark“ schafft in gut zwei Stunden das, was heutzutage eher selten anzutreffen ist: Mit pointiertem Witz, hervorragenden Schauspielern und gut plazierten Liedern hinterfragt das Musical die Haltung einer ganzen Generation und entlässt den Besucher befriedigt und nachdenklich aus der Vorstellung zurück in die eben noch kritisierte Realität voller zukünftiger Ungewissheit, Geschwindigkeitsrausch und Mobilität, denn wann kam nochmal der nächste Zug zurück nach Hause? In fünf Minuten?... Ohhh, dann müssen wir uns aber beeilen, schnell, schnell...

Anna Lenkewitz

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