Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
22 23 24 25 26 27 28
29 30 1 2 3 4 5

12.558 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

„Sein Stift und sein Herz“ entstand mit einer Handkamera, die Süleyman Özdemir auf seinen Reisen begleitete
Foto: Julia Reiker

Sein Film und sein Herz

21. Juni 2015

Süleyman Özdemir präsentierte am 19.6. sein Regiedebüt im sweetSixteen Dortmund – Foyer 06/15

Begonnen hatte das Projekt als Geschenk zum 40. Jubiläum des türkisch-deutschen Schriftstellers Kemal Yalçın – ohne finanzielle Unterstützung durch eine Produktionsfirma oder andere Sponsoren. Süleyman Özdemir machte sich, gerüstet mit einer Handkamera, auf eine 20-monatige Reise, um Yalçıns Lebensweg vom anatolischen Denizli über Griechenland bis ins Ruhrgebiet nachzuzeichnen. Der unangepasste Schriftsteller flüchtete 1981 aus politischen Gründen nach Deutschland und arbeitet seit 1989 als Türkischlehrer in Bochum. Der Grund für Yalçıns Unangepasstheit: Seine Lehrer hatten ihn in der Schule ermahnt, er solle die Wahrheit sagen. Dass diese sich jedoch nicht immer in türkischen Geschichtsbüchern wiederfindet, lernte Yalçın schnell.

In seinem schriftstellerischen Werk thematisiert der Autor die Verfolgung von Minderheiten in der Türkei, immer auch inspiriert von persönlichen Erfahrungen. Da ist beispielsweise „Die anvertraute Mitgift" ehemaliger griechischer Nachbarn seiner Eltern, die bei deren Vertreibung aus der Türkei bei Yalçıns Mutter verblieb und die Yalçın selbst Jahrzehnte später zu eben dieser Familie nach Griechenland zurückbrachte. Dieses Ereignis habe sein Bild von der Türkei nachhaltig verändert und ihn dazu bewogen, sich mit dem griechisch-türkischen ‚Bevölkerungsaustausch' der 1920er Jahre zu beschäftigen.

Sein Stift und sein Herz, Foto: Presse

In seinem Buch „Haymatlos" machte er sich schließlich auf die Suche nach jenen deutschen Juden, die unter nationalsozialistischer Herrschaft in die Türkei geflohen waren, dort jedoch als deutsche Staatsbürger 1944 ausgewiesen oder als staatenlos – haymatlos – erklärt und interniert wurden. Am Beispiel des Anwalts und Übersetzers Cornelius Bischoff wird dieser Abschnitt türkisch-deutscher Geschichte in der Dokumentation thematisiert. Aber auch die Völkermorde an Armeniern und Aramäern während des Ersten Weltkrieges will Yalçın in seinen Büchern aufarbeiten, etwas, das in der Türkei bis heute unmöglich erscheint und immer wieder politischen Zündstoff birgt. Neben den politischen Diskursen rund um die türkische Anerkennung der Völkermorde gibt es eben noch die alltäglichen sozialen Ausgrenzungen, die bis heute anhalten. Das beweisen eindrücklich die Erzählungen einer Sozialwissenschaftlerin, der eine feste Anstellung an der Universität verwehrt wurde, da sie Armenierin ist. Dadurch sah sie sich gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen.

Dem Regisseur Süleyman Özdemir liegt es am Herzen, die Geschichten von Menschen zu erzählen, die entweder in der Diaspora leben oder deren Leben nachhaltig davon beeinflusst wurde, so wie Kemal Yalçın dies in seinen Büchern tut. So fungiert die Dokumentation „Stift und sein Herz" nicht nur als Zeugnis über Yalçıns Werdegang, sondern erzählt davon ausgehend viele weitere Lebenswege, die dem Zuschauer die Aufarbeitungslücke dieser zerstörerischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Erinnerung rufen. Für Yalçın ist die Aufarbeitung dieser Leerstellen in der türkischen Geschichtsschreibung eine Frage von Humanität und Brüderlichkeit, die an keine Religion oder Nationalität gebunden ist. Genauso sollte auch das Publikum die Botschaft des Regisseurs verstehen.

„Sein Stift und sein Herz" | 23. u. 24.6. jeweils 21 Uhr | sweetSixteen Dortmund | www.sweetsixteen-kino.de

Julia Reiker

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Arthur der Große

Lesen Sie dazu auch:

Kreuzberg und die K-Frage
Regisseur Robert Bohrer spricht in Dortmund über „Liebesfilm“ – Foyer 05/19

Diskursive Leinwand
Kino als Raum und Kunstform am European Art Cinema Day – Kino 10/18

Einfühlung gegen die Entfremdung
„Grenzgänger“ am 11. und 18. Dezember im SweetSixteen in Dortmund – Foyer 12/17

Mut gegen Ohnmacht
Nachwuchs-Filmemacherin Asli Özarslan zeigt „Dil Leyla“ im sweetSixteen – Foyer 06/17

Narvik, mon armour
Stranger than Fiction mit „Erzähl es niemandem!“ am 2.2. im SweetSixteen – Foyer 02/17

„Dinge verstehen statt Rollenbildern folgen“
„Die Hände meiner Mutter“ am 2.12. im sweetSixteen – Foyer 12/16

Sex und Arbeit
Filmvorführung von „SEXarbeiterin“ im sweetSixteen mit Debatte über Prostitution – Foyer 03/16

Erlebnis ohne Erlösung
Regie-Duo Heinze und Dietschreit über ihr Spielfilmdebut „Das fehlende Grau“ – Foyer 08/15

Blutige Kohle
„Das gute Leben“ im sweetSixteen Dortmund – Foyer 05/15

Zahlbar in Lebenszeit
„Von der Beraubung der Zeit“ im sweetSixteen Dortmund – Foyer 04/15

Wem gehört die Stadt?
„Buy Buy St. Pauli" im sweetSixteen Dortmund – Foyer 02/15

Rassismus vs. Selbstbestimmungsrecht
„Orania“ im sweetSixteen Dortmund – Foyer 06/13

Foyer.

Hier erscheint die Aufforderung!