trailer: Frau Hitzke, hat sich die Situation von Prostituierten in den letzten Jahren verändert?
Andrea Hitzke: Im Jahr 2002 trat das Prostitutionsgesetz in Kraft, das die Lebens- und Arbeitsbedingungen der legal arbeitenden Prostituierten verbessern sollte. Das war ein richtiger Schritt. Es müssen aber Nachbesserungen gemacht werden. Prostitution muss z.B. bundesweit als Gewerbe anerkannt werden.
Ist Prostitution denn ein Gewerbe?
Aus unserer Sicht ist es eine Gewerbetätigkeit. Es handelt sich um eine Dienstleistung gegen Entgelt. Ich würde diese Tätigkeit aber nicht als Beruf wie jeden anderen bezeichnen. Gesellschaftlich ist es noch immer ein Tabu, sich zu prostituieren. Prostituierte werden immer noch diskriminiert und gesellschaftlich ausgegrenzt. Aber auch ein anderer Gesichtspunkt spricht dagegen, diese Tätigkeit als Beruf zu bezeichnen. Die sexuelle Selbstbestimmung ist ein gesetzlich geschütztes Gut. Ein Arbeitgeber in diesem Bereich, also zum Beispiel der Clubbetreiber, hat nur ein eingeschränktes Weisungsrecht. Dem angestellten Bäcker kann genau vorgeschrieben werden, wie er seine Brötchen backt. Der Arbeitgeber im Bereich der Prostitution darf der Prostituierten nicht vorschreiben, was genau sie mit einem Kunden tut.
Ist denn die psychische Belastung vergleichbar mit der in anderen Berufen?
Wir sehen, dass die Prostitutionstätigkeit langfristig physische und psychische Schäden anrichtet. Das gilt aber auch für andere Tätigkeiten außerhalb der Prostitution. Es gibt sicher Frauen, die sagen, dass es ihnen nichts ausmacht. Bei dem überwiegenden Teil der Frauen, die wir kennen, hat Prostitution aber gravierende Folgen. Deshalb würde ich diese Tätigkeit nicht empfehlen.
Warum werden Frauen und Männer Prostituierte? Ist es die Regel, dass ein sexuelles Trauma als Kind oder Jugendliche stattfand?
Dieser Zusammenhang wird tatsächlich von verschiedenen Organisationen hergestellt. Es gibt sicherlich im Bereich der Sexarbeit Frauen, die zuvor sexuell missbraucht worden sind. Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die wir betreuen, haben wir Hinweise auf eine sexuelle Missbrauchsgeschichte. Generell wäre ich aber vorsichtig, einen kausalen Zusammenhang herzustellen.
Sie betreuen auch Kinder und Jugendliche?
Wir hatten im letzten Jahr Kontakt zu 125 Minderjährigen.
Müssen Sie Kinder und Jugendliche nicht sofort an die Hand nehmen und mit ihnen zur Polizei gehen?
Das hilft ja nichts. Wenn die Betroffenen bei der Polizei nichts sagen, gibt es keine Handhabe. Die meisten wollen nichts sagen. Es gibt Mädchen, die sich prostituieren, um sich Markenprodukte kaufen zu können. Auf der anderen Seite gibt es auch Jugendliche, die mit Gewalt zur Prostitution gezwungen werden, Opfer von Menschenhandel geworden sind. Es gibt aber auch das Mädchen aus geordneten Familienverhältnissen, die auf einen Kerl reinfällt, der sie dann dazu bringt, sich zu prostituieren, zum Teil mit grober Gewalt. Diese Zuhälter machen das ganz geschickt, isolieren die Mädchen von ihrem sozialen Umfeld, machen sie emotional abhängig. Ein betroffener Vater sprach von Gehirnwäsche. Wir lernen auch viele Ausreißerinnen aus Familien und Heimen kennen. Hier müssen wir einen langen Atem haben, um Vertrauen aufzubauen. Wenn wir sofort mit denen zur Polizei gehen, stehen die am nächsten Tag wieder da, wo wir sie angetroffen hatten.
Machen Sperrbezirke wie nun in Dortmund Sinn?
In der Innenstadt in Dortmund hatten wir im Innenstadtbereich immer einen Sperrbezirk. Der Straßenstrich, der bis Mai 2011 legal war, sollte dafür sorgen, dass die Frauen, die im Sperrbezirk arbeiteten, nun dorthin gingen. Seit Bestehen im Jahr 2000 hatte der Straßenstrich eine starke Sogwirkung. Viele Frauen gingen dann nicht mehr dorthin, weil die Konkurrenz zu groß war und es auch massive Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen gab. Drogenabhängige Frauen wurden von anderen zum Teil mit Gewalt vertrieben. Auch die Minderjährigen arbeiteten eher im Sperrbezirk als auf dem offiziellen Straßenstrich. Als Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten sind, kam der Ansturm von dort. Für die Bewohner der Dortmunder Nordstadt wurde die Situation unerträglich. So hat der Rat der Stadt das Verbot der Straßenprostitution im gesamten Stadtgebiet beschlossen.
Diese Maßnahme war sinnvoll?
Es gibt natürlich immer noch Straßenprostitution, aber sie ist enorm zurückgegangen. Der Zuzug aus Bulgarien und Rumänien hat deutlich abgenommen. Auch die Prostitution in Kneipen und Cafés in der Nordstadt ist aus unserer Sich deutlich weniger geworden. Andererseits haben die Frauen, die noch immer überwiegend als drogenabhängige Straßenprostituierte arbeiten, durch die strengen Kontrollen einen enormen Stress. Wenn eine Frau von den Ordnungsbehörden angetroffen wird, bekommt sie eine Belehrung. Im Wiederholungsfall droht Bußgeld und wenn sie das Bußgeld nicht zahlen kann, droht sogar Haftstrafe. Die Frauen sind teilweise gesundheitlich in einem sehr schlechten Zustand. Das alles macht uns schon Sorge.
Was kann denn diesen Frauen helfen?
Wir versuchen, die Frauen zu motivieren, an ihren Suchtproblemen zu arbeiten, sich substituieren zu lassen oder eine Therapie zu beginnen. Die meisten Frauen, die jetzt noch auf der Straße arbeiten, verstehen sich nicht als Sexarbeiterinnen, sondern machen das, um Drogen kaufen zu können. Wenn sie das Drogenproblem nicht mehr haben, arbeiten sie auch nicht mehr als Prostituierte. Ich finde, dass auch zum Beispiel über Originalstoffabgabe nachgedacht werden sollte.
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