Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
15 16 17 18 19 20 21
22 23 24 25 26 27 28

12.557 Beiträge zu
3.787 Filmen im Forum

Rüdiger Schmidt-Sodingen

Cannes kann

30. Mai 2023

Neue Werke von Hausner und Glazer an der Croisette – Vorspann 06/23

Die Filmfestivals stehen in voller Blüte. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass die Hoch-Zeit der Serien nun doch überschritten ist. Anbieter wie Amazon Prime geben bereits zu, dass sich das Zuhause-Publikum am Freitag- oder Samstagabend nach einer kompakten 90- oder 120-Minuten-Geschichte sehnt – und nicht mehr nach Endlos-Stories, die Folge um Folge neue Pirouetten drehen und kein Ende finden.

So gesehen stehen die großen Streaming-Dienste vor den gleichen Herausforderungen wie die Kinos. Beide suchen gute Spiel- oder Dokumentarfilme, die das Publikum begeistern und sich, wenn möglich, gleich in mehreren Ländern und über längere Zeit auswerten lassen.

Zwei Höhepunkte des diesjährigen Cannes-Festivals lassen für die Kinos jedenfalls schon mal Gutes erahnen. In Jessica Hausners „Club Zero“, den man als perfekte Ergänzung zu Ilker Çataks Lola-Gewinner „Das Lehrerzimmer“ sehen kann, checkt eine neue Lehrerin namens Miss Novak, gespielt von Mia Wasikowska, an einem Elite-Internat ein, um die Schützlinge zu einem bewussteren Essen zu erziehen. Was sich zunächst wie ein netter Ratschlag anhört, wird allerdings bald zur Religion erhoben: Das Weniger-Essen wird zur Lebensphilosophie, zum radikalen Lerninhalt, der von den Schülerinnen und Schülern möglichst umfassend umgesetzt werden soll. Hausner nutzt ihren grandios ausgestatteten Film, um eine bessere Gesellschaft zu zeigen, die zwischen betonierten Eltern-Egos und -Häusern längst die Richtung und die Kinder verloren hat. Großartig webt der Film den einseitigen Meinungs- und Desinformations-Wahnsinn des Internets in ein widerborstiges Schuldrama um, in dem das Lehrpersonal zu kriegerischen Influencern mutiert ist.

Auch Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ macht sichtbar, was ansonsten nicht sichtbar war oder ist. Basierend auf der gleichnamigen Geschichte von Martin Amis, bebildert Glazer das vermeintlich normale Familienleben des KZ-Lagerkommandanten Rudolf Höss und seiner Frau Hedwig, gespielt von Christian Friedel und Sandra Hüller. Während nebenan, im Konzentrationslager Auschwitz, die Schornsteine rauchen und die Mordmaschinerie auf Hochtouren läuft, spielen die Kinder, liest der Vater Gute-Nacht-Geschichten vor und pflegt Mutti ihre Blumen. In die falsche Idylle platzen mitunter ein paar Schrei- oder Schusslaute, während Höss in Uniform den Bau neuer Krematorien bespricht und seine Frau in ihrem „Traumhaus“, wie sie es einmal nennt, „frische Wäsche“ sortiert, als ihr Mann nach Berlin versetzt werden soll. Ein unfassbares Kammerspiel über eine „Monster Family“ am Rande des Holocaust.

Beide Filme werden noch für einigen Gesprächsstoff sorgen. Auch deswegen, weil sie eine zentrale Qualität des Kinos offenbaren: Für einen genauen Blick auf das Leben braucht es Zeit – und den Mut, genau hinzusehen. Henry Miller schrieb einmal: „Alles, vor dem wir unsere Augen verschließen, wird schließlich zu unserer Niederlage beitragen.“

Rüdiger Schmidt-Sodingen

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Civil War

Lesen Sie dazu auch:

„Viel Spaß beim Film“
Vom Ende der Platzanweiser:innen – Vorspann 04/24

Was läuft im Kino?
Über die Programmierkunst echter und gespielter Helden – Vorspann 03/24

Prognose: Lachstürme
Die Komödie findet endlich ins Kino zurück – Vorspann 02/24

Emanzipation und Alltag
Starke Protagonistinnen im Januar – Vorspann 01/24

Was vom Kinojahr übrig bleibt
Rückblick 2023 – Vorspann 12/23

Lost Place – Found
Vor 10 Jahren feierte das Hamburger Rialto ein zweites Leben – Vorspann 11/23

Künstler:innenportraits im Oktober
Neue Filme von Margarethe von Trotta und Wim Wenders – Vorspann 10/23

„Barbenheimer“ goes Artiplex
Lösen sich die Kinounterschiede auf? – Vorspann 09/23

Die Geschichte eines „Wochenendes“
Herr Schier und seine Agenturen – Vorspann 08/23

Kein Sommerloch in Sicht
Mit Blockbusterkino und Open Air – Vorspann 07/23

Die Scheiben des Kinos
Vom Zauber der Gebäude und Menschen – Vorspann 05/23

Endlich wieder in voller Blüte
Das Filmfestival-Comeback im April – Vorspann 04/23

Film.

Hier erscheint die Aufforderung!