Die Motivation ist nicht gerade hoch am Samstagmorgen: Grau ist es draußen, es regnet ein bisschen und überhaupt ist das eigene Bett eigentlich viel gemütlicher. Andererseits: Neugierde ist trotzdem irgendwie da. Wie viele Menschen aus Bochum und Umgebung werden wohl zu der Demonstration des überregionalen und politisch unabhängigen Aktionsbündnisses „umFAIRteilen“ kommen, gut eine Woche vor den Wahlen? 2012 war die Beteiligung mäßig, zumindest in Berlin. Aber unsere Bundeshauptstadt ist nicht das Ruhrgebiet. Die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Monate in der Region, und da sei nur das Schicksal der Opelaner genannt, treiben nun umso mehr Menschen auf die Straße.
Das Schauspielhaus ist einer der drei zentralen Punkte, von denen die Großdemo startet. Der Platz ist schon eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn gut gefüllt. Neben Regenschirmen wehen die ersten MLPD-Luftballone, ja auch die. Ein Hauch von Revolution? Den größten Anteil der Demonstranten am Schauspielhaus machen dann doch die Vertreter der Gewerkschaften aus: ver.di, IG Metall, GEW und die Jugendverbände.
Unübersehbar und unüberhörbar soll für eine gerechtere Politik demonstriert werden. Mit diesen Worten eröffnet Gudrun Müller (ver.di Bochum-Herne) pünktlich um 11.30 Uhr die Veranstaltung. Vor allem betont sie den Zusammenhang eines besseren Lebens mit den Forderungen nach einem Ausbau des kulturellen und musikalischen Angebots in Deutschland. Die Kooperation mit dem Schauspielhaus während der Eröffnungskundgebung, aber auch die zahlreichen Auftritte von Künstlern, Musikern und Kabarettisten während der Veranstaltung werden dabei zum sichtbaren Zeichen dieser Verbindung. Während der gesamten Demonstration wird immer wieder auf die kürzlich veränderten Öffnungszeiten der Bibliotheken im Ruhrgebiet verwiesen, auf die Schließung von Hallenbädern oder die geringen Investitionen im kommunalen Bildungs- und Kulturbereich, die es schwer machen, vor allem der Jugend ein adäquates Freizeitangebot zu ermöglichen. DGB-Jugendsprecher Eric Schley bringt die Situation der Jugend in Deutschland dann auf den Punkt: Schlechte Ausbildungschancen und -bedingungen, keine Perspektiven und vor allem keine Übernahmegarantie in den Ausbildungsbetrieben. Ein hoher Bildungsabschluss, so Schley, schütze heutzutage nicht mehr vor Arbeitslosigkeit und einem Leben am oder unter dem Existenzminimum.
Friedlich starteten die Demonstranten am Schauspielhaus. Foto: Anna LenkewitzDie allgemeine Niedriglohnpolitik, Leiharbeit und Befristungen von Arbeitsverträgen führten derzeit zu einer Arbeit für Armut, wie ver.di-Vorsitzender Frank Bsirske bei der Abschlussveranstaltung am Bergbaumuseum formuliert. In seiner Rede verliert er nicht nur den roten Faden, sondern betreibt ziemlich eindeutig Wahlkampf. Ein Umstand, der den Unmut des Publikums auf sich zieht. Jochen Marquardt (Geschäftsführer DGB Ruhr-Mark und Sprecher des Bündnisses für Arbeit und soziale Gerechtigkeit), der sehr deutlich auf die Situation im Ruhrgebiet eingeht, trifft eher den Nerv der Versammelten. Er erklärt: „Mit dieser Demonstration bekommt der Kampf um Gerechtigkeit ein Gesicht. Opel hat gezeigt, dass Solidarität und Gerechtigkeit zusammengehören.“ Auch Dr. Ulrich Schneider (Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes) findet deutliche Worte gegen „das Schönreden in der Politik“, er verweist auf den derzeit „kaputten Arbeitsmarkt im Stile amerikanischer Verhältnisse“ und macht deutlich: „Deutschland ist nicht nur Wirtschaftsstandort, sondern vor allem auch Lebensstandort. Es soll sich lohnen, überall zu leben, nicht nur in Städten wie München, Stuttgart oder Berlin.“ In Deutschland, so Schneider, gebe es eine obszöne Verteilung von Reichtum, wodurch die Einmischung der Politik besonders gefordert sei.
12.000 Menschen ziehen durch die Bochumer Innenstadt, vorbei an gesellschaftlich und politisch markanten Punkten wie Rathaus und Polizeipräsidium. Immer wieder kreuzen sich die einzelnen Demonstrantenzüge. Laut wird es dabei vor allem dann, wenn die Jugend Stimmung macht. Die Musik von Seeed, Peter Fox oder 50 Cent begleitet die Demonstranten auf ihrem Weg zum Bergbaumuseum. An einigen Stellen könnte es ruhig noch ein bisschen lauter zugehen. Schließlich sind Lautsprecher und ver.di-Pfeifen dazu da, gehört zu werden und das ist es doch schließlich, worum es geht: Aufmerksamkeit erzeugen. Ärgerlich, aber vielleicht verständlich ist der teils offene Wahlkampf, für den die Gelegenheit besonders von der SPD genutzt wird.
IG Metaller bei der „umfairteilen“-Demo am 14.9. Foto: Anna LenkewitzImmerhin schindet die Großdemo in Bochum doch Eindruck. Selten sieht man in Deutschland heutzutage eine derart große Solidarität und das gemeinsame Einstehen für eine Sache. Bleibt abzuwarten, wie Berlin darauf reagiert. Erfrischend offene und deutliche Worte der Vertreter des Bündnisses „umFAIRteilen“ machen zumindest ein wenig Hoffnung, Aufschwung in den Einheitsbrei der Politik zu bringen.
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