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Der Autor David Cronenberg
Foto: Myrna Suarez

Brüste essen

05. November 2014

David Cronenberg liefert Splatterfilm als Roman – Krimi 11/14

Während ihrer Affäre mit Nelson Algren ließ sich Simone de Beauvoir 1950 in Chicago von dessen Freund, dem Fotografen Art Shay, in einem Badezimmer nackt fotografieren. Als Odaliske der Philosophie posiert sie vor dem Waschbecken. David Cronenberg muss dieses Foto zu seinem Romandebüt inspiriert haben. Mit 70 Jahren versucht sich der Amerikaner – dessen visuelle Besessenheit von Körpern und ihren bizarren Deformationen markante Spuren in der Geschichte des Films hinterlassen hat – an einem für ihn neuen Medium. Allerdings wird der Titel „Verzehrt“ bei Cronenberg-Fans schon Ahnungen auslösen.

Der Roman erzählt von einem Paar, Naomi ist Journalistin und Nathan Fotograf, beide werden sie von ihrer intellektuellen Neugierde getrieben. Während er in Budapest eine Operation dokumentiert, später mit der Patientin schläft und sich eine seltene Geschlechtskrankheit zuzieht, recherchiert Naomi in Paris. Der berühmte Philosoph Aristide, der Jean-Paul Sartre nachempfunden ist, aber besser aussieht, soll seine Frau Célestine getötet und ihre Brüste gegessen haben. Auf den Videoaufnahmen, die Naomi aus dem Netz kopiert, begegnet ihr ein Paar jenseits der sechzig, die Frau mit einem umwerfenden Sex-Appeal. Zwei Mandarine des intellektuellen Lebens, die im Schlafzimmer mit ihren Studenten beiderlei Geschlechts die Fortsetzung des philosophischen Diskurses praktiziert haben. Als Lebenspartner sind sie unzertrennlich. Die Kriminalgeschichte beginnt sich um beide Paare zu drehen. Aristide flüchtet nach Japan, während Naomi und Nathan eine Liebesnacht in Amsterdam verbringen.

Cronenberg zeigt sie uns als abenteuerlustige Medienfreaks, die ständig mit elektronischen Geräten hantieren, dann jedoch feststellen, dass sich die entscheidende Information nicht aus den Bildern herauslesen lässt. Naomi folgt Aristide nach Tokio, eine riskante Entscheidung, Aristide ist ein unschlagbarer Verführer. Nathan reist nach Toronto zu jenem Mediziner, der die Geschlechtskrankheit erforscht hat, für die er eine Behandlung sucht. Der Professor hat eine schöne Tochter, die bei Aristide und Célestine studierte und seither offenbar traumatisiert ist. Cronenbergs Roman lebt von der Lust an Körpern, Gegenständen und Bildern. Die Pariser Philosophieszene transferiert er in unsere Zeit, so entwickelt sich ein Roman zwischen den Generationen, die wechselseitig miteinander im Bett landen. Dennoch werden Sex und Gewalt nicht spekulativ eingesetzt.

Der Roman stellt sich als eine Fortsetzung von Cronenbergs filmischem Werk dar. Hier verändern sich mit den inneren Umwälzungen der Persönlichkeiten auch die Körper. Der Effekt ist jedoch ein anderer als im Kino, oder besser gesagt, der visuelle Schock zerstückelter, durch Operationen oder Krankheiten verformter Körper stellt sich im Roman nicht wie im Kino ein. Cronenberg interessieren seine vier Protagonisten, ihr Denken und ihr Mut, mit dem sie über die Bilder hinaus die reale Welt mit ihren Gefahren ansteuern. Auch wenn die aufdringlichen Angaben des technischen Equipments, mit dem Naomi und Nathan arbeiten, ziemlich manieriert wirken, zieht einen Cronenbergs klarer Erzählton in eine faszinierende Story hinein. Dass die gegen Ende eine Verschwörungsdimension erhält, fällt weniger ins Gewicht als die wunderbare Präzision, mit der Cronenberg die Charaktere seiner beiden Paare entwirft.

David Cronenberg: Verzehrt | Deutsch von Tobias Schnettler | S. Fischer, 398 S. | 22,99 €

Thomas Linden

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