So viel konstruktive gesammelte Ruhe gab es noch nicht in der Neuen Galerie in Gladbeck, wie sie ab Anfang Februar zu sehen und auch zu hören sein wird: In der Ausstellungshalle hängen – oder schweben – dann vier Glocken mit einer Höhe von 2,20 Metern und einem Durchmesser von 1,50 Metern über flachen, inwendig leuchtend blauen Schalen. Die polierten, sanft gewölbten Aluminiumflächen spiegeln den Raum und die Besucher. Dazu ist ein Klangteppich aus Alltagsgeräuschen zu hören, in dem als Hauptton Glockengeläut auszumachen ist…
Der Betrachter findet sich in einer kontemplativen Situation wieder, bei der sich Psyche und Physis – Innen und Außen – verschränken und die Halle zum Resonanzraum wird. Denkbar, dass sie in ihrer fensterlosen Kargheit wie ein sakrales Gebäude wirkt, wahrscheinlich müsste man sich hier ganz alleine aufhalten… Die Initialzündung für diese Arbeit, so hat die Künstlerin – Seo – berichtet, sei auf eine Erfahrung in ihrer koreanischen Heimat zurückzuführen: Von einer Anhöhe hörte sie die verschwimmenden Geräusche der Stadt zu ihren Füssen, worüber sich Glockengeläut schob, was eine große innere Ruhe bei ihr bewirkte. Glocken, sagt Seo, dienen in Korea zur Meditation und zum Alleinsein, in Deutschland aber führen sie zur Versammlung und Gemeinschaft… In Gladbeck nun erzeugen die Glocken, die Seo in Korea anfertigen ließ, in ihrer prägnanten ästhetischen Sprache eine kontemplative Gestimmtheit. Und sie repräsentieren die unterschiedlichen kulturellen Entwürfe von West und Ost.
Ist es nicht überraschend, dass diese Installation von Seo stammt? Schließlich verbinden wir mit der koreanischen Künstlerin farbenprächtige, lichtdurchflutete, oft monumentale Malerei-Collagen, mit denen sie vor einem Jahrzehnt ein Shootingstar in Deutschland war und heute international etabliert ist. In ihren Bildern halten sich einzelne Figuren in blühenden landschaftlichen Szenarien auf, vor einem Gebirge, im Reisfeld, in einem Boot auf dem Wasser: Schilderungen, die in ihrer sinnlichen Prägnanz entfernt an den Realismus sozialistischer Propagandamalerei erinnern könnten – wenn da nicht eine entscheidende Abweichung wäre. Die Figuren treten mit der Natur in einen Dialog, ihr Handeln spielt kaum eine Rolle, vielmehr gehen sie als Einzelne in der weiten Landschaft auf. Natürlich lässt sich bei solchen Bildern an das romantische Ausgesetzt-Sein des Menschen in der Welt denken; implizit klingt das Zurechtfinden an fremden Orten an. Aber schon das fragil Flirrende der Oberfläche bricht mit dem hehren Schein. Seo hat die Bilder aus unzähligen farbigen Papierstücken zusammengesetzt, wobei sie Fantasielandschaften etwa aus der Grundlage unterschiedlicher Gebirge in Südostasien geschaffen hat.
Seo wurde 1977 in Korea geboren; seit 2001 lebt sie in Berlin, wo sie ihr Studium, das sie in ihrer Heimat in traditioneller Tuschmalerei begonnen hatte, an der Universität der Künste bei Georg Baselitz abgeschlossen hat. Schon bald entstehen die Malerei-Collagen, von denen es nun auch in der Neuen Galerie in Gladbeck im Lesezimmer Beispiele aus der Serie „The Long Way Back“ zu sehen gibt. Ausgestellt ist aber auch ihre neue Werkgruppe der „Kalten Landschaften“, die als Aluminiumreliefs hinter den großen Glocken hängen. Auf den langgezogenen Stegen sind Figurationen und Naturformationen auszumachen. Sie tragen den Eindruck des Spitzen, Verletzenden zwischen Zerlegung und Zusammenfügung – auch das haben sie mit den großen Bildern gemeinsam. Auf dem schmalen Grat zwischen Transzendierung und Illustration, Sublimierung und Pathos gelingt die Kunst von Seo eindrucksvoll.
„Seo“ | 6.2.-3.4. | Neue Galerie im Rathauspark Gladbeck | www.neue-galerie-gladbeck.de | 02043 319 83 71
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